Kultur

“Sturm“ (Shakespeare) am Staatstheater Kassel

Zauber & Träume


(Quelle: N. Klinger)
(Quelle: N. Klinger)
GDN - Mit Shakespeares “Sturm“, der Abschiedsinszenierung des scheidenden Intendanten Thomas Bockelmann, eröffnete das Staatstheater Kassel am vergangenen Samstag die neue Spielzeit und beendete die coronabedingt premierenfreie Zeit.
Am vergangenen Mittwoch hielt Herbert Grönemeyer in Berlin eine flammende Rede zur Rettung der Veranstaltungsbranche, um auf deren prekäre Lage im Rahmen der Covid-19-Pandemie aufmerksam zu machen. “Die Zuschauer sind unser Adrenalin, unser Lebenssinn, unsere Lebensversicherung, und ich glaube, das ist umgekehrt genauso.“
So ist die Vorfreude und Spannung vor und hinter der Bühne sicherlich groß, als am vergangenen Samstag aufgrund der coronabedingten Hygienemaßnahmen lediglich rund 120 Menschen statt der üblichen gut 500 Zuschauer in das Schauspielhaus strömen, um der diesjährigen Eröffnungspremiere “Sturm“ von William Shakespeare beizuwohnen.
Willkommen geheißen werden diese von Meeresrauschen, das aus den Lautsprechern in den Zuschauersaal strömt. Auf der Bühne fällt der Blick auf einen umgestoßenen Thron, der an vergangene Zeiten und Machtkonstellationen erinnert. Die einstige lange Tafel ist zwei nüchternen Holztischen und schmucklosen Stühlen gewichen. Es war einmal“¦ ein Herzog von Mailand. Dieser taucht, gekleidet in einen Bademantel, der mittlerweile den einstigen Purpurmantel ersetzt, schon bald auf der Suche nach seinem verlorenen Herzogtum im Bühnenhintergrund auf. Binnen kurzem zucken helle Blitze durch den Theatersaal, Donner grollt, ein gewaltiger Sturm wühlt das Meer auf und bringt ein vorbeifahrendes Schiff zum Kentern.
Um sich an seinen Feinden zu rächen, hat jener entmachtete Herzog namens Prospero mithilfe seines magischen Dieners Ariel das Unwetter entfesselt, das somit nichts anderes als eine für das Publikum sichtbar mittels eines Ventilators sowie geschickter Beleuchtungseffekte erzeugte Illusion ist.
Zwölf Jahre zuvor hat sein machthungriger Bruder Antonio, da sich Prospero weniger den Regierungsgeschäften als dem wissenschaftlichen Studium und den Künsten hingegeben hat, gegen ihn intrigiert und ihn entmachtet. Seinem Schicksal überlassen, strandete Prospero gemeinsam mit seiner Tochter Miranda auf einer einsamen Insel, über die mitsamt deren Bewohnern, dem Luftgeist Ariel sowie dem Hexensohn Caliban, er mittlerweile herrscht.
In Coronazeiten mit ihren Hygieneregeln, die sich nicht nur im Zuschauerraum offenbaren, sondern auch beim Geschehen auf der Bühne auswirken, stellt es sich als eine glückliche Fügung heraus, dass sich Intendant Thomas Bockelmann für seine Abschiedsinszenierung am Staatstheater Kassel, das er zum Spielzeitende verlassen wird, frühzeitig für die Textfassung von Joachim Lux, derzeitiger Intendant des Thalia Theaters in Hamburg, die lediglich drei Schauspieler*innen vorsieht und die Shakespeares Original mit fünfzehn Charakteren prägnant verknappt, entschieden hat. Der Fokus liegt auf den Figuren Prospero, Caliban und Ariel, wodurch bereits deutlich wird, dass die magisch-märchenhafte Perspektive des Stückes in das Zentrum gerückt wird.
Quelle: N. Klinger
Das zeigt sich auch im von Sabine Böing gestalteten Bühnenbild, das von einer langen Rutsche, auf der Luftgeist Ariel aus der Geisterwelt in die Realität gleitet, dominiert wird. Um die Geschichte vollständig zu erzählen, schlüpfen die drei beteiligten Schauspieler*innen Meret Engelhardt (Caliban & Miranda), Christina Weiser (Ariel, Ferdinand & Stefano) und Jürgen Wink (Prospero & Trinculo) wiederholt in unterschiedliche Rollen. Hierzu bedarf es auf den ersten Blick nicht mehr als eines Requisits wie einer Kopfbedeckung, wobei hervorzuheben ist, dass dieses Unterfangen vornehmlich aufgrund der feinen Schauspielkunst der drei Akteure gelingt.
Meret Engelhardt
Quelle: N. Klinger
Der von Meret Engelhardts gänzlich uneitel verkörperte Caliban ist ein dumpfer, unglücklicher, animalischer Sklave, der sich vergeblich mit den gestrandeten Feinden Prosperos verbündet und sich sogleich dem nächsten Herrscher unterwirft. Diese devote Haltung scheint er sich aufgrund seiner Lebenserfahrung zu eigen gemacht zu haben, womit in dieser zu allem Bösen fähigen Figur auch eine große Tragik spürbar wird. Letztlich teilt Caliban sein Schicksal mit Prospero, denn auch ihm wurde seine Stellung genommen, als der einstige Herzog von Mailand ihn vor zwölf Jahren seiner Insel beraubte.
Christina Weiser
Quelle: N. Klinger
Christina Weiser gibt im schneeweißen Kostüm mit dem Luftgeist Ariel einen Charakter, der zwischen Aufbegehren und der Suche nach Anerkennung bei seinem Meister Prospero schwankt. Die Schauspielerin wechselt gekonnt zwischen drei Figuren und kann in der Rolle des Stefano auch ihr komisches Talent zeigen. Der vom Kasseler Publikum bereits seit fünfzehn Jahren überaus geschätzte Jürgen Wink verkörpert meisterhaft einen verbitterten Prospero, der als vertriebener Herzog einerseits Mitgefühl erheischt, aber bald auch als rachsüchtiger Unmensch auftritt.
Shakespeare hat in seinem letzten, vermutlich 1611 fertiggestellten Stück Charaktere erschaffen, die bei näherem Hinsehen komplexer sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen.
Wie die Bühne im Kasseler Schauspielhaus weisen die ironisch gebrochen Figuren mehrere Ebenen auf und lassen sich nicht in ein einfaches Gut-Böse-Schema pressen. Ist Prospero Opfer einer Verschwörung oder gewalttätiger Kolonialherr? Erleben wir mit Caliban einen durchtriebenen Bösewicht oder ein Opfer jenes technisch überlegenen Gewaltherrschers?
Thomas Bockelmann
Quelle: N. Klinger
Thomas Bockelmann hat sich nach eigener Aussage bewusst für “Sturm“, ein Stück über Abschied, Versöhnung und Loslassen, als Eröffnungspremiere seiner Abschiedssaison als Intendant entschieden und damit eine nachvollziehbare und adäquate Wahl getroffen, denn das letzte Stück aus Shakespeares` Feder kann auch als Vermächtnis und Abschied eines der bedeutendsten Dichter der Weltliteratur gelesen werden, wechselt Prospero doch beim Epilog unverkennbar in die Rolle des Autors:
“Du wirst mir fehlen. Unsere Spieler waren Geister alle und zerfließen nun zu Luft, zu dünner Luft; und wie dies ins Nichts gebaute Trugbild, werden einst wolkenhohe Türme, Paläste, stille Kirchen, ja der große Erdball selbst, mit allem, was auf ihm Wohnung nahm, vergehn, und wie dies wesenlose Schauspiel zerfließen, verschwinden ohne Spur. Wir sind aus solchem Stoff aus dem man Träume macht; und unser kleines Leben umschließt ein Schlaf.“
Als Prospero nach eineinhalb Stunden seinen Feinden verziehen hat und die Insel und Bühne verlässt, setzt Applaus ein, der für einen Moment vergessen lässt, dass sich lediglich 120 Menschen im Saal befinden. Eine Zuschauerin brachte es nach der Vorstellung auf den Punkt: “Egal ob es um Musik geht oder Comedy oder eben Theater“¦ das Liveerlebnis ist durch Nichts zu ersetzen.“
Quelle: N. Klinger
In seiner eingangs erwähnten Rede warnt Herbert Grönemeyer eindringlich vor dem drohenden Kollaps der Veranstaltungsbranche: “Ein Land ohne Live-Kultur ist wie ein Gehirn ohne geistige Nahrung, ohne Euphorie, Aufbruch, Lust, Diskurs, Lachen und Tanz. Es verdorrt, gibt Raum für Verblödung, für krude und verrohende Theorien, verhärtet und fällt seelenlos auseinander.“ Deutschland setze seinen “Zauber aufs Spiel“ und stelle “seine Zauberer zur Disposition". Spätestens als Jürgen Wink zu dem wunderbaren Epilog - “Wir sind aus solchem Stoff, aus dem man Träume macht“ - ansetzt, hat sich wohl jeder im Saal darüber gefreut, dass im Staatstheater Kassel wieder geträumt und gezaubert wird.
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